In
Gottes Hände: Rilke, Pötzsch en Rodin |
|
Homepage Archive Das Taufhemd |
Das Gedicht ‘Herbst’ von Rainer
Maria
Rilke und das Lied ‘Du kannst nicht tiefer fallen’ (EG 533) von Arno
Pötzsch
beschreiben beide das Fallen eines Menschen. In diesem Aufsatz
beschreibe ich,
wie die beiden Gedichte die Erfahrung dieses Fallens artikulieren. Aber
die
beiden Gedichte werden nicht nur durch die Thematik des Fallens
miteinander
verbunden. Beide Gedichte sind von Skulpturen des französischen
Künstlers Rodin
inspiriert. Es ist schon bekannt, dass Pötzsch sein Lied schrieb,
nachdem er in
Paris die Skulptur ‘La main de Dieu’ gesehen hatte[1].
In diesem Aufsatz versuche ich plausibel zu machen, dass Rilke beim
Schreiben
seines Gedichts durch das Werk Rodins inspiriert war. Rainer Maria Rilke (1875-1926)
wuchs im
geordneten Deutschland Bismarcks auf. Seine frühen Gedichte atmen die
deutsche
romantische Tradition. Gleichzeitig verblieb er in Avant-gardekreisen
und
studierte er die Philosophie Nietzsches. Im August 1902 reist Rilke nach
Paris, um eine
Monographie über Rodin zu schreiben.
Die Begegnung mit der Stadt Paris trifft ihn zutiefst. Das Elend der
Pariser
Bevölkerung und das Durcheinander der Großstadt bringen ihn aus seinem
Gleichgewicht. Am 31. August 1902 schreibt er seiner Frau Clara
Westhoff: ‘Man
sieht Kranke, die hingehen oder hinfahren, in allen Straßen. Man sieht
sie an
den Fenstern des Hôtel de Dieu in ihren seltsamen Trachten, den
traurigen
blassen Ordenstrachten der Krankheit. Man fühlt auf einmal, dass es in
dieser
weiten Stadt Heere van Kranken gibt, Armeen von Sterbenden, Völker von
Toten’ [2]. Ein Brief, den er zwei
Wochen später schreibt,
zeigt noch deutlicher sein Entsetzen und seine existentielle Verwirrung: ‘Paris hat für mein
geängstigtes Gefühl etwas
Unsäglich-Banges. Es hat sich ganz verloren, es rast wie ein
bahnverirrter
Stern auf irgendeinen schrecklichen Zusammenstoß zu. So müssen die
Städte
gewesen sein, von denen die Bibel erzählt, dass der Zorn Gottes hinter
ihnen
emporstieg, um sie zu überschütten und zu erschüttern.’[3] Einen Tag nach
dem ersten Brief begegnet er Rodin zum ersten Mal in seinem Atelier[4].
Rilke ist tief beeindruckt von Rodin und seiner Arbeit. Rodin als
schaffender
Künstler wird ein Vorbild für ihn und beeinflusst seine Arbeit als
Dichter
tiefgreifend. Rilke schaltet um auf einen anderen Dichtstil. In seinen
Gedichten wird er nicht mehr in erster Linie Gefühle ausdrücken,
sondern viel
mehr Objekte skizzieren. Das ‘Sehen’ wird am wichtigsten. Zugleich
versucht er,
mit Worten zu malen, was die Essenz des beschriebenen Gegenstands ist.
Auf
diese Art und Weise versucht Rilke mit Worten das zu tun, was Rodin mit
Marmor
tat. Am 11. September
1902 schreibt er sein Gedicht ‘Herbst’ Die Blätter fallen, fallen wie von
weit, Und in den Nächten fällt die
schwere Erde Wir alle fallen. Diese Hand da
fällt. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen Das Gedicht fängt
an mit einer alltäglichen Erfahrung am Anfang des Herbstes. Man sieht
Blätter
durch die Luft schweben, aber man weiß gar nicht, woher die Blätter
kommen. Es
ist, als ob sie aus dem Himmel fallen. Rilke suggeriert, dass es nicht
nur auf
der Erde Herbst ist, sondern auch im Himmel. Die Blätter des
himmlischen
Paradieses verlieren ihre Blätter, als ob auch das Paradies einem
langen und
tödlichen Winter entgegen tritt. Die Blätter wirbeln hin und her, als
ob sie den
Kopf schütteln: ‘nein, wir möchten nicht sterben’ oder Nietzscheanisch:
‘nein,
Gott ist tot und der Himmel stirbt’. Die Nächte werden länger und die
Erde
fällt unaufhaltsam - wie eine schwere, reife Frucht im Herbst - aus
ihrem
Zusammenhang in die Einsamkeit. Kein Stern strahlt mehr auf sie und
alle
Zusammenhänge lösen sich. Schließlich fallen wir auch. Jeder Mensch
fällt, wie
einst Adam. Er fällt aus seiner sinnreichen, paradiesischen Welt und
stirbt
letztendlich. So ist das Gedicht ein mit Nietzscheanischen, Memento
Mori-artigen und vielleicht auch biblischen Themen gefülltes Nachdenken
über die
existentielle Krise, die die Begegnung mit der Großstadt Paris in dem
Leben
Rilkes hervor rief. Arno Pötzsch Als Pötzsch die Skulptur sieht,
trifft sie
ihn auf eine andere Weise. Mitten im Kriegsschrecken sieht er nicht eine
Schöpfungstat, sondern eine gegenläufige Bewegung: ein Mensch, der aus
dem
Himmel nach unten stürzt und fällt und fällt, bis die Hand Gottes ihn
erfasst.
Es ist möglich, dass das Gedicht Rilkes, das er zweifellos gekannt hat,
es ihm
ermöglichte, hier das Fallen eines Menschen zu sehen, aber wie sehr ihm
das Gedicht
bewusst war, weiß ich nicht. Als
er wieder zu Hause ist, schreibt er dieses Lied. Er gab ihm den Titel
‘unverloren’. Unverloren
Das Lied wurde zum ersten Mal in
‘Singende
Kirche’, ein Gesangbuch mit Liedern von Pötzsch für die deutsche
evangelische
Gemeinden in den Niederlanden publiziert. Diese Lieder wurden durch den
Niederländischen Komponisten Jacques Beers (1902-1947) mit Melodien
versehen[6].
Das Lied ‘Du kannst nicht tiefer fallen’ fand seinen Weg in
deutschsprachige
Gesangbücher und wurde auch in das neue Niederländische Gesangbuch
aufgenommen[7]. Rodins Interesse für Hände ist
Rilke nicht
entgangen. In seiner Monographie über Rodin schreibt er: ‘Es gibt im
Werke
Rodins Hände, selbständige, kleine Hände, die, ohne zu irgendeinem
Körper zu
gehören, lebendig sind. Hände, die sich aufrichten, gereizt und böse,
Hände,
deren fünf gesträubte Finger zu bellen scheinen, wie die fünf Hälse
eines
Höllenhundes’[11]. Auf ganz ähnliche Weise spielt die
Hand
eine selbständige Rolle im Gedicht ‘Herbst’. Die Hand steht hier als
pars pro
toto für den ganzen Menschen. Es wäre vielleicht auch möglich, genau die
Skulptur zu ermitteln, die Rilke beim Schreiben seines Gedichtes
inspiriert
hat. Ich vermute, dass Rilke durch die berühmte Figurengruppe der
‘Bürger von
Calais’ inspiriert wurde. Rodin zeigt in dieser Figurengruppe die
Geschichte
der Bürger von Calais. Als Calais sich 1347 nach einer langen
Belagerung der
Englischen Belagerungsmacht übergeben muss, bietet der Englische König
an, die
Bevölkerung zu schonen, wenn sechs prominente Bürger sich ihm
ausliefern, um
getötet zu werden. Der voranstehende Bürger Eustache de Saint Pierre
und fünf
andere melden sich als Freiwillige. In seiner Figurengruppe hat Rodin
das
innerliche Ringen zwischen ihrem Lebenswillen und ihrer Bereitschaft
zum Opfer zeigen
wollen. Auffallend sind die Arme und Hände von Eustache de Saint
Pierre, die
senkrecht nach unten hängen. Auch die Hände der Anderen haben einen
auffallenden,
verzweiflungsvollen Ausdruck. Sie machen
‘Gebärden’, wie Rilke schreibt
in
einer seitenlangen, ab und zu ganz exaltierten Beschreibung
dieser Figurengruppe:
‘Und dann sah er
(Rodin, C.W.) auch die Gestalten nicht mehr. In seiner
Erinnerung stiegen Gebärden auf, Gebärden der Absage, des Abschiedes, des
Verzichts. Gebärden über Gebärden. Er sammelte sie. Er bildete sie
alle. Sie
flossen ihm aus der Fülle seines
Wissens zu.’[12] Wenn es stimmt, dass die letzten Verse von Rilkes Gedicht auf einen
Gott hinweisen, dann
kann er auch durch andere Skulpturen von Rodin inspiriert sein. Rilke
hat in
Rodins Atelier vielleicht Vorstudien der Skulpturen ‘Le Cathedral’
(ursprünglicher Titel ‘die Bundeslade) oder ‘Le Secret’ gesehen. Beide
Vorstudien bestehen aus zwei rechten Händen
und lassen sehen, was die letzten Verse dieses
Gedichtes ausdrücken: die
Hände umhüllen und schützen einen Raum, in dem der Mensch fällt. Diese
Hände
wären dann wie die Hände Gottes. Das
könnte ein Gott sein, der sich von der Natur nicht unterscheidet, ein
Gott, der
den menschlichen Fall nicht
bremst,
sondern dabei ist und mit diesem Fall verbunden ist [13].
Vielleicht wäre es auch der biblische Gott, der Rettung und
Auferstehung
verspricht: letztendlich sind die Bürger von Calais gerettet worden. Im
letzten
Moment hat die schwangere Königin von England ihren Mann gebeten,die
Bürger von
Calais nicht umzubringen. Es würde ein schlechtes Omen für ihres Kind
sein,
wenn diese Männer sterben müssten. Es ist auch
möglich, dass Rilke mit ‘Einen’ auf einen Mensch, auf den Künstler
Rodin, zielt[14].
Dann ist Rodin die Gottheit, die die ganze Welt – oder jedenfalls die
Bürger
von Calais - in seinen Händen hält.
Das
passt gut zu der großen, halb verliebten Bewunderung, die Rilke in
dieser
Lebensphase für Rodin hat. Dann ist Rodin, genau wie bei ‘La main de
Dieu’, der
Gott, der die Menschen schafft und in Händen hält. Das tut er, indem er
unendlich sanft ihr Ringen mit Leben und Tot zeigt[15][16]. Coen Wessel
[1]
A.
G. Soeting ‘Jacques Beers (1902-1947) ein unbekannter niederländischer
Kirchenmusiker’ in: I.A.H. Bulletin nr.39 (2011) S. 217-228. [2] Brief
von 31. 8.1902 an
Clara in: Rilke, Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906, Leipzig 1930, S.
24
zitiert in: Michaela Kopp, Rilke und Rodin, Auf der Suche nach der
wahren Art
des Schreibens, Frankfurt am Main 1999, S. 96. [3] Brief
von 17.9.1902 an
Heinrich Vogeler, in : Rilke, Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906,
Leipzig
1930, S. 139 zitiert in: Michaela Kopp, Rilke und Rodin, Auf der Suche
nach der
wahren Art des Schreibens, Frankfurt am Main 1999, S. 96. [4] Michaela Kopp, Rilke und Rodin
Auf der
Suche nach der wahren Art des Schreibens, Frankfurt am Main 1999, S. 98. [5] Ursprünglich lautet die letzte
Zeile:
‘und werden sein und leben, in Gott in Ewigkeit’. Adriaan
Soeting, Jacques
Beers. Een
onbekende Nederlandse kerkmusicus,
in: Eredienstvaardig,
Baarn,
Jhrg. 26 nr. 5, November 2010, S. 23-25. [6] Das Lied wird auch gesungen auf
Melodien
von Hans Georg Bertram, Herbert Gadsch, Hans Hauzenberger, Frieder
Ringeis,
Gerhard Schnitter und Hans Jansen, Siehe: A. G. Soeting ‘Jacques Beers
(1902-1947) ein unbekannter niederländischer Kirchenmusiker’ in: I.A.H.
Bulletin nr.39 (2011), S. 225 + 227. [7]
Liedboek, zingen en bidden in huis en kerk, Zoetermeer 2013, nr. 916. [8] In den Regionalteilen von
Bayern/Thüringen und von Württemberg. [9] Zitiert in: Sonja Matthes, In
Gottes
Hand, Arno Pötzsch, Ein Lebensbild, Hannover 3. Auflage 2001, S. 74 [10] Wie schon die Titel des Buches
von Hélène
Marraud über die Hände in dem Werk Rodins sehen lässt: Rodin. La main
révèle l'homme, Paris 2005. [11] Rainer
Maria Rilke, August Rodin, Insel Verlag
Frankfurt Am Main 1984. Bei diesen letzten Worten hat Rilke
wahrscheinlich an
Rodins ‘La main de Diable’ gedacht. [12] Rainer Maria Rilke, August Rodin,
Frankfurt Am Main 1984, S. 55-56 [13] So interpretiert Taras Bulba
diese Versen
in seinem Aufsatz ‘Breaking Mod’, am 15.10 2013 gefunden auf http://www.gedichte.com/threads/176121-Rainer-Maria-Rilke-Herbst, in Nachfolge von: Günther
Schiwy, Rilke
und die Religion, Frankfurt 2006, S.42-43. [14] Michaela Kopp-Marx hat mir das
suggeriert
in einer Email von 12.06 2012. [15] Ich möchte Frau Dr. Ulrike
Hascher-Burger
herzlich dafür danken, dass sie mein Deutsch verbessert hat. [16] Ich möchte hier Andreas Pangritz
herzlich
gratulieren zu seinem 60. Geburtstag und ich hoffe, dass das
Zusammenspiel von
Theologie und Musik, vielleicht auch zusammen mit Literatur und
bildender Kunst,
in seinem Leben und Werk noch lange fruchtbar sein darf. |