In diesem Aufsatz werde ich skizzieren wie
Friedrich-Wilhelm Marquardt versuchte auf die Krisen des 20.
Jahrhunderts zu
reagieren. Anfänglich spiegelt er sich an der Art und Weise
wie Karl Barth auf
die Krisen des 20. Jahrhunderts zu reagieren versucht hat. Ab Ende der
Siebziger Jahre kriegt was er beim Judentum gelernt hat den Vorrang, um
von
dort her auf die Krisen der europäischen Kultur zu reagieren.
Auch hier bleibt
er ein Schüler von Karl Barth, aber er entwickelt jetzt eine
viel
zerbrechlichere Theologie. Diese Zerbrechlichkeit schließt
sehr gut bei der
heutige Zeitgeist an. Ich möchte dies Alles in kürze
zeigen an Hand der Art und
Weise wie Marquardt in seiner Dogmatik über die Welt der Bibel
spricht und wie Karl Barth das 1916 tat.
1. Karl Barth und die Krise
des Ersten Weltkrieges1
Im Herbst 1916
hält Karl Barth einen Vortrag in der
Kirche zu Leutwil mit dem Titel: ‘die neue Welt in der
Bibel’. Der Vortrag
fängt mit der sehr unkomplizierten Frage an: was steht in der
Bibel? Für Karl
Barth ist diese Frage aufs Neue wichtig geworden. Der Ausbruch des
Ersten
Weltkrieges und die Reaktion der Deutschen Theologen haben ihn zu einer
neuen
Orientierung in der Theologie gebracht. Die meisten Theologen und
gerade auch
seine Professoren aus Marburg, wo Karl Barth studiert hat, versuchten
mit
theologischen Argumenten Deutschlands Angriff auf Belgien und
Frankreich zu
verteidigen und das hat Barth in eine theologische Krise
gestürzt. In einen
Brief an seinen Lehrmeister Martin Rade schreibt er:
‘Das ist mir das Allertraurigste in dieser
traurigen Zeit, zu sehen, wie jetzt in ganz Deutschland
Vaterlandsliebe,
Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander
geraten’2.
Worauf Martin Rade zurück schrieb, dass ein Schweizer wie Karl
Barth niemals
‘die Erfahrung, wie dieser Krieg über die Seele
meines Volkes kam’ haben konnte3.
In den ersten Monaten nach
dem Anfang des Krieges weiß
Karl Barth noch nicht was diese neue Situation für seine
Theologie bedeutet. An
seinem Freund Eduard Thurneysen schreibt er: ‘Wenn
irgendeinmal, so möchte man
jetzt Gott bitten, Propheten aufstehen zu lassen. Wir
sind es jedenfalls
nicht”4.
Aber einige Monate später findet er diesen Profeten in dem
kleinen Dorf Bad
Boll. Bad Boll war ein Religiöses Zentrum wo Christoph
Blumhardt Pfarrer war.
Das Dorf war ein religiöses Zentrum geworden, als der Vater
von Christoph
Blumhardt, Johann
Christoph Blumhardt
sein Pfarrkind Gottliebin Dittus genesen hat. Er hatte einen
bösen Geist bei
ihr ausgetrieben, und bei der Austreibung hatte dieser böse
Geist durch sie
gerufen: ‘Jesus ist Sieger’. Karl Barth
hörte in Bad Boll eine Predigt von
Christoph Blumhardt in der er jeden Nationalismus verurteilte und sagte
dass
das Reich Gottes jedes einzelne Land übersteigt. Durch diese
Predigt und durch
die Gespräche mit Blumhardt ändert Barths Theologie
sich. Gotteserkenntnis sei
nicht sosehr die Erfahrung Gottes in einem Leben, sondern viel mehr
Erkenntnis
des Sieges Gottes über Sünde, Tod und die Welt. Gott
hat gewonnen und darum
gibt es in unserem Leben kein Gleichgewicht zwischen dem
‘noch nicht’ und dem
‘schon jetzt’ des Gottesreich. Es führt
ihn zu einer Spiritualität des Sieges
Gottes, die er erst im zweiten Römerbrief etwas
gemäsigt hat.
`Was steht in der
Bibel’, fragt Karl Barth in Leuswill
und er antwortet selber: eine neue Welt, die Welt Gottes. Die Bibel
spiegelt
beim ersten Anschauen vielleicht unsere eigene Welt und das was wir
selber
suchen. Aber, sagt Barth, wir sollten einen weiteren Schritt machen.
Die Bibel
fordert uns auf. Sie spricht zu uns: ‘geh und suche auch noch
mich! Suche was
dasteht! Die Bibel selbst ist’s, eine gewisse unerbittliche
Logik ihres
Zusammenhangs, die uns über uns selber hinaustreibt, uns
einladet...nach der
Antwort (zu greifen): Eine neue Welt, die Welt Gottes ist in der
Bibel’5.
Und von dort sollen wir auch in die Welt schauen. Sehen wie Gottes
Geist alles
erneuert. Und zum Mensch sagt Gott: mache mit, und wie der Gastgeber
aus dem
Gleichnis sagt er: “Kommt,
denn es ist
alles bereit!” (Lukas 14:17)6.
2. Friedrich-Wilhelm Marquardt und die Krise des Zweiten
Weltkrieges
Nach seiner
Kriegsgefangenschaft und dem Sonderabitur für
Kriegsteilnehmer in 1946, fängt Friedrich Wilhelm Marquardt in
Mai 1947 mit
seinem Theologiestudium in Marburg an. Als achtzehnjähriger
Student wandert er
durch die verwüstete Stadt, in der nur die
Trümmergipfel der Häuser noch
standen. Die verwüstete Stadt war auch ein Bild der
geistlichen Situation
Deutschlands. Es war nicht mehr möglich sich der vorige
Generation
anzuschließen. Die vorige Generation - die Professoren, seine
Eltern - hatten
mit dem National-Socialismus kollaboriert, waren geflüchtet
oder ermordet. Wer
jetzt anfing, tat das in einem geistlichen Vakuum. Dietrich Braun
(1928), ein
Kommilitone aus Marquardts Baseler Zeit hat das so formuliert:
“Wir mussten in
der Tat nicht nur neue Wegen suchen; wir mussten darüber
hinaus ein neues
Koordinatensystem finden, weil traditionelle Orientierungen verloren
gegangen
waren. Für kaum eine Generation galt das Gebot des Neuanfangs
so radikal wie
für uns...uns als der einzigen Generation, die ganz in der
Welt des
Nationalsozialismus gross geworden war”7.
In der Deutschen Literatur ist diese
Situation als
“Stunde Null” charakterisiert.
Marquardts erste Antwort
auf die Fragen der
Nachkriegssituation ist ein Schritt in Richtung einer gesellschaftlich
orientierten Theologie. Auch er verabschiedet sich deswegen von Marburg
und
fängt bei Karl Barth in Basel zu studieren an und wird ein
Schüler Barth’s. Er
hat sich in seinem Leben vielleicht auch ein wenig mit Barth
identifiziert. Er
versuchte wie Karl Barth in Safenswil ein engagierter Pfarrer zu sein
und hat
seine Gemeinde in Euskirchen wegen einer zu radikalen Predigt verlassen
müssen8.
Er verteidigt Barth gegen Bultmann-schüler und publiziert
vieles über Barth.
Und als er um 1970 sieht, daß es eine Generation von
Studenten gibt die, genau
wie er selber, in der Gesellschaft und in der Kirche
festläuft, versucht er
ihnen den sozialistischen Karl Barth aus Safenwil. mit seinem Buch
‘Karl Barth
war Sozialist’ zu vermitteln. Als ein Beispiel, daß
man auch so Theologe sein
kann: so hat Barth nach 1914 reagiert, so habe ich in der
Nachkriegszeit
reagiert und so könnt ihr jetzt reagieren.
Aber Marquardt wird mehr
als ein Barth-Interpret. Er
entdeckt das Judentum. Karl Barth hat, wie Sie wissen, einen blinden
Fleck für
das Judentum gehabt. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg war es
für den Deutschen
Marquardt, mit seiner Sensibilität für den Zeitgeist,
nicht mehr möglich das
Judentum zu negieren. Marquardt sucht eine Erneuerung der Kirche und
der Kultur
nicht nur in radikaler Politik und in einer Art radikaler christlicher
Theologie, wie Karl Barth das getan hat, sondern auch in einer
Orientierung auf
Israël.
Anfänglich
versucht er die Orientierung auf Israel in
seinem `Barthianismus’ zu integrieren. In seiner Doktorarbeit
aus 1967 ‘Die
Entdeckung des Judentums in der Theologie Karl Barths’
versucht er Karl Barth’s
Sprechen über den Juden ‘nach vorne hin’
zu lesen. Und auch im ursprünglichen
Plan für seine Dogmatik sehen wir noch, dass sein Sprechen
über das Judentum
Teil eines mit dem Judentum erweiterten Barthschen Programmes war. Sein
ursprünglicher Plan für seine Dogmatik beinhaltete
drei Teile. Er wollte
erstens aus den Fragen des Judentums heraussprechen, zweitens aus den
Fragen
der Armen der Welt heraus (hier sehen wir den sozialistischen Barth)
und
drittens von der Bewährung der Humanität heraus (hier
sehen wir Karl Barth in
seinem Widerstand gegen den Nationalismus des Ersten und Zweiten
Weltkrieges).
Ende der Sechziger und in
den Siebziger Jahre finden
jüdische Intellektuelle den Raum, um die
erschütternde Erfahrung der Shoah zu
sich durchdringen zu lassen. Marquardt hat sich mit dieser
Erschütterung
verbunden. 1979 hält er einen Vortrag auf einer Tagung der
jüdisch-christliche
Arbeitsgemeinschaft. Darin spricht er über was Auschwitz
für die Theologie
bedeutet. Er spricht dort zum ersten Mal den Gedanken aus, ob Gott
nicht in
Auschwitz gestorben sei. Diese Überlegung wird für
sein weiteres Denken und
seine Dogmatik grundlegend. Und am Anfang seiner Dogmatik schreibt er
über
Auschwitz und das absolute Bankrott der Theologie.
Aber dann stellt sich die
Frage: wenn dies so sei, wie
mache ich dann mit meinem Theologisieren weiter? Die christliche
Theologie ist
bankrott, wie komme ich aus dieser Sackgasse, wie komme ich auf neue
Gedanken?
In diesem Moment tut er
dasselbe wie einst Karl Barth
getan hat. Er vollzieht dieselbe Bewegung. In seinem Dogmatik schreibt
er: ‘Wir
klammern uns in dieser Dogmatik in einer verzweifelten
Anhänglichkeit an die
Bibel. Wir werden an sie appellieren, ja uns in sie flüchten
wie in eine “neue
Welt”, als die Karl Barth sie dargestellt hat.’9.
Ich möchte hier über die
„neue Welt“ der Bibel bei
Marquardt nachdenken und einige Aspekte dieser neuen Welt skizzieren.
3. Die neue Welt
a. Die neue Welt soll
geöffnet werden, wir sollen Zugang
zu dieser Welt haben
Eine neue und verschlossene
Welt hat eine Zugangstür. Das
ist so in allen Märchen und so hat auch die Welt des
mittelalterlichen Hortus
Conclusus eine Tür. Bei Karl Barth standen die Türen
zur neuen Welt der Bibel
weit offen. Wir sollten diese neue Welt, worin Christus der Sieger ist,
nur
entdecken und in unser Leben und in unserer Gesellschaft gelten lassen:
“Kommt,
denn es ist alles bereit”.
Marquardt flüchtet in die neue Welt der
Bibel. Aber
angesichts Auschwitz kann er es nicht so wie Karl Barth es damals getan
hat,
tun. Auschwitz ist eine Vertiefung der Krise unserer Gesellschaft.
Nationalismus
und Rassismus, die schon an der Wiege des ersten Weltkrieges standen,
haben
aufs Neue zu einer Katastrophe geführt. Dadurch ist die Krise
unserer
Gesellschaft permanenter. Es ist auch eine qualitative Vertiefung der
Krise:
Auschwitz hat, weil es geschehen ist auch wirklich etwas
verändert. Es hat zu
einer Verunsicherung des Verhältnisses des Menschen zu seiner
Welt geführt, es
hat die Stelle des Todes in unserer Gesellschaft geändert:
nicht mehr die
Grenze, sondern der Grund unserer Welt. Die Krise ist breiter, tiefer,
größer
und kann sich wiederholen. Auschwitz stellt die ganze Geschichte der
Theologie
und damit die mit ihr verwobene Geschichte des Westens in Frage.
Angesichts
Auschwitz kann Marquardt nicht sagen: Christus ist Sieger, weil das
Verhältnis
von Christus zu den Juden Teil des Problems ist. Eben ein Teil der
Bibel selbst
in den wir flüchten wollen, der Teil des Neuen Testaments,
steht unter der
Anklage der Judenfeindschaft10.
Marquardt verabschiedet
sich darum von der
Sieger-Spiritualität des jungen Barths und kommt zu einer
Spiritualität der
Umkehr. Genau wie das Volk Israël im Babylonischen Exil gesagt
hat: laßt uns
umkehren damit Gott sich wieder zu uns wendet, so sollen auch wir uns
umkehren,
auch in unserem Denken, damit Gott - wenn das möglich
wäre - wieder zu uns
kommt. In dieser Exil-spiritualität gibt es ein Moment der
Unsicherheit:
vielleicht kommt Gott auch nicht zurück. Vielleicht hat er
sich definitiv
zurückgezogen, vielleicht ist er gestorben. Dieses Moment gibt
seinem ganzen
dogmatischen Unternehmen einen Unterton der Zerbrechlichkeit, den ich
sehr
gerne mag.
Marquardt öffnet die Tür zu der
Welt der Bibel durch
erstmal sehr bewußt eine hermeneutische Entscheidung zu
treffen. Wir sollten
die Schrift nicht ohne weiteres lesen, sondern erstmal
Lebensverbindlichkeiten
angehen. Wir sollten zu bestimmten Orten gehen wo wir in der Theologie
bisher
versagt haben, und das sind erstmal die Juden. Von dorther sollen wir
die Bibel
lesen.
Diese hermeneutische Entscheidung liegt auf
gleicher
Linie mit seiner Spiritualität der Umkehr. In der Hermeneutik
seines
Lehrmeisters Bultmann ist die Mythologische Sprache der Bibel und der
Abstand
in der Zeit das große hermeneutische Problem. Aber
für Marquardt sind wir
das Problem. Wir haben uns im Abendland für die Juden und
für die Welt der
Bibel verschlossen. Wir haben gesündigt. Hierin spürt
man den Einfluss Barths.
Auch Barth sagte: es geht um uns. Für Karl Barth
führte das zu einer
Vernachlässigung der Hermeneutik. Die Fragen der Hermeneutik
waren für ihn
letztendlich zweitrangig. Durchschlaggebend und vorrangig waren
für Barth die
Fragen der Gehorsamkeit: hören wir das Wort, folgen wir ihm
nach.
Marquardt vernachlässigt die Hermeneutik
nicht. Sein
Aufenthalt in Marburg hat ihn für ewig für die Fragen
der Hermeneutik
empfindlich gemacht. Es geht um uns, und darum sollten wir etwas mit
uns selber
tun, wir sollten zu bestimmten Orten gehen, wir sollten eine Art
Vorverständnis
entwickeln, könnte man mit Bultmann sagen. Aber die Orte, die
uns angewiesen
werden sind nicht unsere Orte, sondern werden uns durch das Wort Gottes
gewiesen. Durch die lebendige Stimme des Evangeliums, durch die
Berufung.
Natürlich spielt da mehr mit bei diesen Begriffen, wie zum
Beispeil der
Einfluss Martin Bubers, aber es geht mir jetzt um die Reihenfolge: die
Weisung
Gottes hat Priorität.
b. Es geht Marquardt in der Bibel um eine Welt
Als Marquardt sich zur
Bibel wendet geht es ihm um die
neue Welt in der Bibel. Die biblische Geschichten
öffnen eine Welt.
Diese Welt hat etwas eigenes, etwas Objektives, mit einem eigenen Logik
ihres
Zusammenhangs genau wie Karl Barth das beschrieb. Sie ist anders als
unsere
Welt. Diese Welt sollen wir nicht mit unseren Kategorien beurteilen,
anders
lernen wir nichts anders als das was wir schon wußten. Wir
sollen diese Welt
von innen her verstehen lernen.
Sie hat ihr eigenes in der Welt stehen, ihre
eigenes
Daseinsverhalten, ihre eigene Ontologie. Sie spricht nicht von der
Menschheit, sondern von Israel und den Völkern. Sie
spricht nicht von dem
Mensch, von dem Individuum, sondern sie stellt den
Menschen von Anfang
an in Beziehungen und spricht über den Menschen und
seine Frau, über den
Menschen und seinen Genossen.
Dieses
Daseinsverständnis kommt vor allem im Alten
Testament vor, ist aber auch im Neuen Testament formgebend und
überall zu
spüren. Die Zeugen des Neuen Testaments und Jesus selber haben
sich innerhalb
des Rahmens dieses Verständnis verstanden. Es geht Marquardt
um mehr als nur
eine literarische Verbundenheit zwischen Alten und Neuen Testament, es
gibt ein
gemeinsames in der Welt stehen, das Geschichte stiftend ist.
Marquardt versucht dann
eine Form zu finden um diese
Ontologie auf einen Nenner zu bringen. Er sucht die Wurzel dieser
Ontologie in
dem Hebräischen Idiom der biblischen Sprache. Als er bei
Bultmann studierte,
hatte er auch Heidegger lesen sollen. Von ihm hat er
übergenommen, daß die
Sprache der Zugang zur Welt ist. In diese Richtung denkt er jetzt
weiter. Es
würde ein Hebräisches Idiom geben das ganz
verschieden vom Germanischen sei.
Das Hebräische würde eine eigene Wirklichkeit stiften
in dem es nicht um das
Sein, sondern um das Tun ginge. Hier versucht er viel zu viel
miteinander zu
verbinden: Heidegger, Buber, Breukelman und auch sehr obskure Theorien
über das
Wesen einer Sprache. Vor einigen Jahren habe ich das alles schon einmal
kritisiert11,
das werde ich hier nicht wiederholen. Mir geht es jetzt
um das, was er positiv vorhat mit all diesen Sachen. Er sagt: es gibt
eine
andere Weise um in der Welt zu stehen, anders als wie wir es im
Abendland
gewöhnt sind. Er nennt das eine andere Ontologie, eine, die
anders ist als
unser Sein. Anders als Sein würde er später mit
Levinas sagen.
Die Kirche hat diese Ontologie aus ihrer Mitte
vertrieben. Dadurch hat sie sich für die Welt der Bibel
verschlossen. Es ist
diese beziehungsreiche und aktive Denkweise die uns genesen kann,
sodass die
Welt der Bibel sich in neuen Räumen - in Utopien -
verwirklichen kann.
c. Es ist eine neue
Welt
Das Überraschende
des Ausdrucks ‘neue Welt’ in Bezug auf
der Bibel war bei Karl Barth dass er die Bibel ‘neu’
nannte. Schon 1917
wurde die Bibel viel mehr als das ‘alte’
Buch gekennzeichnet, als etwas
aus der Vergangenheit. Barth versuchte mit dieser Benennung die Bibel
aktuell
zu machen. Es geht in der Bibel nicht um eine alte Welt, sondern um
eine Welt
die jetzt etwas zu sagen hat, ja um eine die Zukunft in sich hat. Mit
der
Benennung ‘neue Welt’stellte er die Bibel auf
dieselbe Ebene wie die Zukunft
versprechenden Neuigkeiten seiner Zeit: die neue Zeit des Sozialismus,
das neue
Bauen, der Modernismus in der Kunst. So stand seine Theologie im
Zentrum der
intellektuellen Bewegungen seiner Zeit.
Aber das
Überraschende des Ausdrucks ‘neue
Welt’
bei Marquardt ist, dass es überhaupt noch eine neue Welt gibt.
Das Entsetzen
über Auschwitz hat in Deutschland und in den Niederlanden in
den achtziger und
neunziger Jahren einen riesengrossen Einfluss auf die Kultur gehabt.
Aber es
wurde vor allem mit unserer Schuld verbunden, auch mit Wiedergutmachung
und Umkehr,
manchmal auf eine sehr schöne Weise, aber niemals mit
Hoffnung. Ja, ich glaube
das mit dem Nachdenken über Auschwitz manchmal auch ein
heimliches Feiern des
Todes Gottes verbunden war. ‘Wir glaubten schon nicht an Gott
und nach
Auschwitz glauben wir ganz und gar nicht mehr’. Die
Sätze auf dem
Niederländischen Auschwitz-Monument des Künstlers und
Schriftstellers Jan
Wolkers: ‘Nimmer kann an diesem Ort der Himmel
ungeschändet gespiegelt werden’
haben darum auch etwas doppeldeutiges. Dieser Einfluß auf die
Kultur ging
weiter als nur ein Sprechen über Gott. Zur gleichen Zeit haben
die
Intellektuellen in Europa ihre Hoffnung auf den Sozialismus aufgegeben.
Zu
recht, meiner Meinung nach. Aber als der Sozialismus aus der
Europäische
Wohnung vertrieben wurde, haben siebenböse
Geister seine Stelle in einer grenzenlosen Form von Hedonismus und
Nihilismus
übernommen (Mat. 12,45). Mit dem Ende des Sozialismus kam
für sehr viele Leute
auch ein Ende an jede Hoffnung für die Welt. Meinungsforschung
in den
Niederlanden zeigt, daß die meisten Leute optimistisch
über ihr eigenes Leben
und pessimistisch über die Gesellschaft sind. Das ist eine
Widerspiegelung des
Wegfallens der Hoffnung aus dem gesellschaftlichen Raum und deren
Beschränkung
auf das eigene Leben und die eigene Karriere. Aber Marquardt spricht
angesichts
Auschwitz über eine neue Welt. Das ist
genau so mutig wie im
Babylonische Exil über eine Heimkehr nach Zion zu sprechen.
Die neue Welt liegt nicht
schon da, wie damals bei Barth,
der sagen konnte: “Kommt, denn es ist alles
bereit!” (Lukas 14:17). Bei
Marquardt gibt es eine große Verunsicherung über das
heutige zu Hause sein bei
Gott. Die Spiritualität der Umkehr, bei der
Marquardt sich anschließt, orientiert sich
auf die Hoffnung. Wir hoffen
und beten das Gott kommen wird. Bei Marquardt hat dies zu einer starken
Orientierung auf die Eschatologie geführt. Die ‘neue
Welt’ der Bibel ist die
Olam-ha ba, ist die kommende Welt. Aus dieser Welt kommt Jesus, der
Mensch des
Eschatons, der Zukunftmensch12.
Aber es ist nicht nur wegen
Auschwitz, dass eine
Orientierung des Glaubens auf die Zukunft an der Tagesordnung ist. In
dem
schönen Aufsatz ‘Vielleicht Christ sein’,
ein Unterteil der Christologie, nennt
Marquardt einige andere Gründe für die Orientierung
auf die Zukunft. Es gibt
heute eine Verunsicherung des Glaubens. Uns fehlt die Erfahrung des
Geistes
(310), oder die allgemeine Anerkennung in der Gesellschaft (311). Wir haben eine sichere
Scheu gegenüber
evangelikalen Gruppen mit ihrem ‘entschiedenen’
Christentum (315). Unsere
Teilnahme am Gottesdienst geschieht mit einem innerlichen Vorbehalt
(318). Bei
uns gibt es mehr das Gefühl das wir Unterwegs zur Wahrheit
sind (314). Wir
erfahren unser Christ-sein als einen Versuch (315), als etwas das wir
noch vor
uns haben und jetzt noch nicht haben, ‘noch nicht, noch nicht
jetzt, vielleicht
später’ (319)13.
Ich finde diese Seiten der
Christologie wichtig, weil sie
einen breiteren „Sitz im Leben“ für die
eschatologische Form der Dogmatik
Marquardts geben. Sie schließen auch bei einem breiten
Gefühl der Leichtigkeit
des Glaubens und einer fröhlichen Unfundiertheit des Glaubens
an. Sie geben uns
die Möglichkeit zwischen der Skylla der Umarmung der
Orthodoxie und der
Charybdis des Glaubensabfall durch zu segeln. Marquardt kam aus dem
Krieg mit
dem Gefühl wir haben es nicht verdient, aber wir leben noch.
Jetzt können wir
vielleicht sagen: wir wissen was da alles passiert ist, wir kennen alle
Vorwürfe gegen den Glauben, wir kennen sie von innen her, und
trotzdem glauben
wir.
Auch darum bleibt es
wichtig seine Eschatologie als etwas
Zerbrechliches zu lesen, vielleicht mehr auf Hoffnung als auf
‘die Zukunft’
orientiert. Am Ende seiner Christologie zitiert Marquardt die Bitte
“Amen, das
ist: Es werde wahr” aus dem bekannten Luther-Lied. Alles was
wir in der
Eschatologie sagen werden, sagt er, ist eine unsichere Sache, es ist
ein Gebet:
Es werde wahr. Ich sage das auch weil mir es beim Lesen von Teilen
seiner
Eschatologie ab und zu schien, als ob ich schon die Posaunen des
Himmelreiches
hörte. Da war es mir, als ob nur der Wahrheitsanspruch des
‘es ist geschehen’
in der Zukunft versetzt worden war: ‘so wird es
sein’14. Ob
das nur mein
Lesen war oder ob Marquardt das wirklich so geschrieben hat, das
weiß ich jetzt
nicht. Jedenfalls haben wir im Zwanzigsten Jahrhundert schon zu viele
Eschatologien mit einem festen Glauben an der Zukunft gesehen.
4. Schlussfolgerungen
Ich habe versucht Marquardt
als jemand zu skizzieren der
in seiner Theologie auf die Krisen des 20. Jahrhunderts reagiert hat.
Anfänglich spiegelt er sich an der Art und Weise wie Karl
Barth auf die Krisen
des 20. Jahrhunderts zu reagieren versucht hat. Ab Ende der Siebziger
Jahre
kriegt was er beim Judentum gelernt hat den Vorrang, um von dort her
auf die
Krisen der europäischen Kultur zu reagieren.
Ich sage das mit Nachdruck
weil Marquardt vor allem als
jemand gesehen wird, der sich mit dem Judentum befaßt. Das
stimmt natürlich,
aber er hat sich mit dem Judentum im Blick auf das Ganze
befaßt. Mit dem Auge
auf das gerichtet, was er sein Leben lang getan hat: Zu reagieren auf
das
Entsetzen des 20. Jahrhunderts. Marquardts Engagement mit dem Judentum
steht in
diesem Kontext.
Auch sein Engagement mit
dem Sozialismus steht im Zeichen
seines Versuchs eine Antwort auf die geistliche Krisen Europas zu
finden.
Es gab für Marquardt innere Verbindungen
zwischen
bestimmten Teilen des Judentums und des Sozialismus. Vielleicht am
Originalsten
spricht er darüber in der Eschatologie als er weist auf die
Orientierung des
rabbinischen Judentums auf das Recht: das Judentum ist ein Gottesdienst
der
Geboten und der Rechtspflege. Marquardt empfehlt gesellschaftliche
Bewegungen
an sich viel mehr auf das Recht zu orientieren15.
Sozialismus sei
für ihm eine Ausbreitung des Rechts. Es hat im Sozialismus
immer eine starke
‘Wille zur Macht’ gegeben. Marquardt würde
viel mehr ein ‘Wille zum Recht’
empfehlen.
Wie das auch sei, meiner Meinung nach ist die
wichtigste
Verbindung zwischen Judentum und Sozialismus bei Marquardt, dass
Marquardts
Wendung zum Sozialismus und zum Judentum, Antworten auf die Krisen
Europas nach
dem ersten und dem zweiten Weltkrieg sind.
Was er dann beim Judentum
gelernt hat, hat er für die
ganze Krise der europäischen Kultur fruchtbar zu machen
versucht. Es gab ihm
Raum für eine breitere und mehr umfassende Kulturkritik: Eine
Kritik auf die
objektivierende Tradition der Aufklärung in der man immer
‘über’ Menschen
spricht statt mit ihnen. Oder in der Eschatologie kritisiert er das
Sprechen
über den Tod, wie wir das hier im Abendland seit der Zeit der
Griechen getan
haben, und er kritisiert die Weise wie wir die Gebote
vernachlässigt haben, und
so weiter...
Ich glaube, daß
wir Marquardt von diesem Verständnis her
lesen sollen. Ich glaube, dass er dann auch für breitere
Gruppen interessant
sein kann und vielleicht auch noch mehr Erkennung und Anerkennung als
heute
finden kann.
Coen Wessel
1. Ich verdanke einiges
aus diesem Paragraphen an: Christophe Chalamet, Dialectical
Theologians,
Wilhelm Hermann, Karl Barth and Rudolf Bultmann, Zürich, 2005
2. Karl Barth – Martin
Rade. Ein
Briefwechsel, mit eine Einleitung herausgegeben von
Christoph Schwöbel, Gütersloh, 1981, S.96
4. Karl Barth-Eduard
Thurneysen, Briefwechsel Band 1 1913-1921, Zürich, 1973, S.
12.
5. ‘Die neue Welt
in
der Bibel’ in: Karl Barth, Das Wort Gottes und die Theologie,
Gesammelte
Vorträge, Verlag der Evangelischen Buchhandlung Zollikon, 1929
s.22
7.
Dietrich Braun, “Zur Verabschiedung von Prof. Dr.
Friedrich-Wilhelm Marquardt”in: S. Hennecke u.a. (red.),
Abirren,
Niederländische und Deutsche Beiträge von und
für Friedrich-Wilhelm Marquardt
S.195-201, Knesebeck, 1998, S.197
8.Andreas Pangritz, Über
Friedrich-Wilhelm Marquardt, Bonn, 2003, S.8
9. F.-W.
Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Dogmatik, München,
1988, S.151. Siehe
auch F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden,
München,
1990, S.298
10. F.-W.
Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Dogmatik, München,
1988, S.151.
11.
Coen Wessel, De Schul-weg van Friedrich-Wilhelm
Marquardt, in:, Marquardt lezen, hg. von Derk Stegeman u.a., Baarn,
2003,
S.187-208
12. F.-W. Marquardt,
Was
dürfen wir hoffen wenn wir hoffen dürften? Eine
Eschatologie, Band 1 S.346-463.
13. In eine Anspielung
auf
Augustinus’ Confessiones, VIII,V,12
14.
Wie der Dichter Jan Wit zu Unrecht diesen Satz aus
Luthers “Vater Unser” ins Niederländische
übersetzt hat (gezang 48, Liedboek
voor de Kerken, Den Haag 1973).
15. F.-W. Marquardt,
Was
dürfen wir hoffen wenn wir hoffen dürften? Eine
Eschatologie, Band 1,
Güthersloh, 1993, S.245