Terug naar F.-W. Marquardt
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In diesem Aufsatz suche ich nach
Institutionen des christlichen Hoffens. Ich schliesze mich bei dem an was
Marquardt in seiner Dogmatik über eine Institution der Hoffnung geschrieben
hat, nämlich das Witwenamt. Ich führe seine Überlegungen anhand einer Exegese
von zwei Berichte aus der Apostelgeschichte weiter. Von daher ausgehend suche
ich nach heutige Institutionen des christlichen Hoffens. Zu dem werde ich
untersuchen inwiefern die beiden Arten mit denen Marquardt über eine
Evangelische Halacha spricht, dazu beitragen können, um zu heutigen
Institutionen des Hoffens zu kommen.
Institution der Hoffnung
Im ersten Band seiner
Eschatologie berichtet Marquardt von einer Institution der christlichen
Hoffnung, nämlich dem Witwenamt in den früh-christlichen Gemeinden1.
Da die Witwen nicht mehr an ihren Mann und den Haushalt gebunden waren, konnten
sie - befreit von den Bindungen der Normalität - sich ganz Gott und der
Gemeinde widmen. Ihre Arbeit bestand darin, dasz sie unablässig beteten (I Tim.
5,5), vor allem, wie die Priester der Tempel, bei Tagesanbruch und um
Mitternacht. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit bestand darin, dasz sie
Gemeindeglieder besuchten und
diese erbauten. Diese Hochschätzung der Witwen ist für uns auffallend, denn
in unseren Gemeinden sind Witwen meistens nur ein Objekt pastoraler Arbeit.
Marquardt hingegen betrachtet das Witwenamt nicht nur als eine Möglichkeit für
Frauen, zu Subjekten zu werden. Für ihm ist es auch eine (heiden)christliche
Institution der Hoffnung und darin auch ein heidenchristliches Gegenbild zur
Bedeutung der Erzeugung der nächsten Generation im Judentum: "Wo jüdisch
der Bestand des Bundes am Geschenk der nächsten Generation hängt, wird
heidenchristlich das Hoffen auf Gott von den toledot, d.h. aus dem biblischen
Wirklichkeitszusammenhang der "Zeugungen" herausgelöst. Nicht die
Geburt des Kindes - der Aufbau der Gemeinde ist jetzt das Fanal der Hoffnung. Denn das Kind, auf
das es christlich ankäme, ist schon geboren2".
Der biblische Hintergrund, vor
dem Marquardt über das Witwenamt spricht, ist der erste Timotheusbrief. Ich möchte
Marquardts Gedanken aufgreifen, aber vor einem anderen Hintergrund etwas über
Institutionen der Hoffnung sagen, nämlich vor dem Hintergrund einer
Auferstehungsgeschichte einer Witwe in der Apostelgeschichte. Weil diese
Geschichte eng mit der daran vorangehender Auferstehungsgeschichte des Äneas
verbunden ist, werde ich diese ebenfalls in meine Überlegungen miteinbeziehen.
In Apostelgeschichte 9:32-43 wird
von der Heilung eines Mannes namens Äneas, der schon acht Jahre gelähmt auf
seinem Bett liegt, berichtet. In der anschlieszenden Perikope (Apostelgeschichte
9:36-43) geht es um eine Witwe namens Tabitha, die stirbt und von Petrus
wiederauferweckt wird.
Zuerst fällt auf, dasz beide
Geschichte eine Hintergrund haben in den Evangelien und im Elia/Elisa-Zyklus.
Zahlreiche Elemente dieser Erzählungen sind beinahe wörtlich diesen
Auferstehungsgeschichten entnommen. Wir nennen dies - mit Marquardt3
- Wiederholung. Jesu Lehrlinge haben ihre Lebenswege so eng an die Schriften
und das Leben Jesu gebunden, sie partizipieren so eng an der Geschichte Israels
und dem Leben Jesu, dasz sie ihren Lebensweg als Wiederholung der Schriften
und des Lebenswegs Jesu gestalten. Doch es gibt innerhalb der Wiederholung auch
Unterschiede. Reine Wiederholungen gibt es in der Bibel überhaupt nicht, da
diese sich in immer neuen historischen Kontexten abspielen und man auch immer
mit neuartigen Initiatieven Gottes zu rechnen hat. Einen Unterschied innerhalb
einer Wiederholung nenne ich eine Verschiebung.
Talitha/Tabitha
Wenden wir uns zuerst der
Auferweckung der Tabitha zu. Es handelt sich hier um eine Wiederholung der Geschichten
I Könige 17,17-24 (Wiederaufweckung des Sohnes der Witwe Sarfaths durch Elia),
II Könige 4,18-37 (Wiederaufweckung des Sohnes der Sunamitischen), Lukas
7,11-17 (Der Jüngling zu Nain) und Markus 5,21-43 (=Lukas 8,40-56) (Das Töchterlein
des Jairus). Diese Wiederholungen interpretieren wir - mit Marquardt - nicht
als eine Legitimation des Auftretens der Apostel, sondern als ein Beweis, wie
die Bindung an die Schriften und an das Leben Israels neues Leben und neue
Auferweckungen produziert.
Auszer Wiederholungen gibt es
einige Unterschiede. In der Geschichten aus den Evangelien und dem
Elia-Elisa-zyclus geht es um ein Sohn oder eine Tochter, der oder die
auferweckt wird. Es geht um die Auferweckung der gestorbenen nächsten
Generation: durch die Zwischenkunft Elias, Elisas und Jesu wird es eine nächste
Generation in Israël - und eben im heidnischen Sarfath - geben. So stehen diese
Geschichten im Zeichen des Fortgangs der Toledot (Zeugungen, Erweckungen). Mit
dem Fortgang der Toledot Israels ist im Tenach und in den Evangelien der
Fortgang der Hoffnungsgeschichte und der Versprechungen Gottes für Israel und
die ganze Welt verbunden4. Diese Auferweckungsgeschichten können
darum auch als Variationen zu den "Wurzelverstockungsgeschichten"
(Sara, Hanna, Elisabeth u.a.) betrachtet werden. Denn hier geht es auch um den
Fortgang der Toledot und die mit ihnen verbundene Hoffnungsgeschichte. In
diese Geschichten wird berichtet, dasz der Schosz der unfruchtbaren Frauen geöffnet,
lebendig gemacht wird, damit es eine nächste Generation gibt. Der Unterschied
in der Geschichte der Tabitha aus der Apostelgeschichte ist, dasz hier nicht
der Sohn der Witwe auferweckt wird, sondern die Witwe selber. Es geht nicht
mehr um die Wiederaufweckung der nächsten, sondern um die Wiederaufweckung der
heutigen Generation. Nicht ihre Kinder werden leben, nicht das in ihrem Schosz
begriffene Leben wird auferweckt, sondern sie selber wird auferweckt. Sie überlebt
den Tod5.
Nicht der Fortgang der Toledot ist das Thema des Berichtes der
Apostelgeschichte, sondern die Wiederauferweckung der heidenchristliche
Gestalt der Hoffnung.
Die Apostelgeschichte ist für
Marquardt das Buch der Krisen6.
Sie ist nicht die
Geschichtsschreibung der Emanzipation der Kirche von der Synagoge, worin die
Kirche die Synagoge hinter sich läszt und nach den Spannungen der Scheidung in
einer neuen Identität Ruhe findet. In der Apostelgeschichte werden die prinzipiellen
Spannungen und Krisen beschrieben, die die Ver kündigung des Namens Jesus
hervorruft - im historischen Kontext von vor 2000 Jahren, aber die ganze
Geschichte bis heute umfassend. Die Apostelgeschichte beschreibt diese Spannungen
und Konflikte: die Konflikte in der Welt der Heiden, die Konflikte innerhalb
der christlichen Gemeinden und auch die Spannungen und Konflikte die im
Judentum entstehen, weil sich jetzt auch Heiden als Heiden auf die Geschichte
und die Identität Israels berufen. Die gröszte Krise ist die Entstehung überwiegend
heidenchristlicher Gemeinden. Die Entstehung dieser Gemeinde war von den
Aposteln nicht gewollt, sondern der Geist liesz sie "über die Köpfe der Apostel7"
hinweg entstehen. Wenn ich Marquardt richtig verstehe, dann ist dies für ihn
ein wichtigerer Konfliktpunt zwischen Juden und Christen als das Auftreten
Jesu Christi, denn das Auftreten Jesu Christi spielt sich beinahe noch ganz
innerhalb des Judentums ab und ist also auch noch inner-jüdisch zu verstehen.
Marquardt versucht, für das
heutige Christentum eine Identität zu finden, die auch ohne Verwerfung des
Judentums Bestand hat8. Es ist in seinen Augen die Schwäche
des Christentums, dasz es sich nur durch eine Negation, durch die Verwerfung
des Gesetzes und des Judentums, eine Identität verschaffen kann. Marquardt möchte
zu einem Christentum kommen, dasz sich dadurch konstituiert, dasz es in
gesuchten und gewollten Beziehungen lebt. Und die erste Beziehung dieser Art
ist die Beziehung zum Judentum.
Marquardt skizziert diese
Beziehung als eine Beziehung in Beteiligung und Distanz9. Diese Beziehung
zeichnet sich durch Teilnahme am Leben der Juden aus, nicht durch Identität. In
diese Beziehung bestehen Unterschiede, jedoch bilden diese keine
antagonistischen Gegensätze.
Darum kann Marquardt nicht nur
die Übereinkünfte, sondern auch die Konflikte und Unterschiede zwischen
Judentum und Christentum signalieren und würdigen. Er versucht nicht,
Judentum und Christentum in einer Art Arbeitsteilung (die Juden für das
Judentum, und die Heidnen für das Christentum) oder in einer Gleichschaltung
zu versöhnen. Das Endziel Marquardts ist Ver-söhnung, aber Versöhnung hat
mehr mit dem Aushalten als mit der Überwindung von Gegensätzen zu tun.
Marquardts Dialektik ist nicht die Dialektik Hegels, in der Gegensätze
aufgehoben werden, sondern die Negative Dialektik Adornos, in der Gegensätze
ausgehalten werden und im Prozesz der Begegnung (sei es freundlich, sei es
konfliktuös) einander vorwärts treiben10.
Die Kombination von Wiederholung
und Unterschied finden wir am deutlichsten beim Namen Tabitha ausgeprägt.
Dieser Name stimmt beinah mit dem Aramäischen Wort für "Mädchen, Töchterchen"
überein, welcher im Jesus-Wort von Markus in der Erzählung von Jairus Töchterlein
überliefert wurde: Talitha. Das Unterschied ist eine Buchstabe.
Die Verschiebung in Buchstaben
hat seine Parallelle in einer Verschiebung im Leben: die Christengemeinden
stehen auf demselben Grund der Hoffnung, doch ist für sie Hoffnung nicht mit
dem Fortgang der Toledot verbunden, sondern mit den Hingabe ihrer Leben an
Christus, der Gemeinde und dem kommenden Gottesreich.
So symbolisiert der Name die Übereinkunft
und den Unterschied zwischen der Hoffnung der christlichen Gemeinde und der
des Judentums. In der Verschiebung des Buchstaben werden Wiederholung und Unterschied,
Teilnahme und Distanz symbolisiert.
Äneas/Äneias
In der Geschichte der Heilung des
Äneas wird eine Heilungsgeschichte Jesu in verkürtztem Form wiederholt (Lukas
5,17-26). Die Geschichte des Äneas weckt nicht nur innerbiblische und innerjüdische
Assoziationen, sondern mit dem Namen Äneas werden wir auch
an Äneas dem Stammvater Roms erinnert. Und auch in dieser Geschichte gibt es
einen Gelähmten: der Vater des Äneas. Am Ende des ersten Buches der Äneis
beschreibt Vergil, wie Äneas dem brennenden Troja mit seinem gelähmten Vater
auf dem Rücken entflieht.
Es ist ein sehr schönes Bild,
nicht nur für jeden, der in seinem eigenen Leben ein Verhältnis zu seinem (oder
ihren) Vater entwickeln musz, sondern auch für jedes Beginnen11
eines Theologen in unserer Zeit: fliehend aus dem Elend des brennendes Hauses
der Theologie haben wir auch noch unsere theologische Väter auf unserem Rücken.
Mehr Ballast als Hilfe. Das Groszartige bei Marquardt ist m.E., dasz er seine
Theologie nicht im Vätermord versanden läszt. Vielmehr will er die Väter aus
der brennenden Stadt hinausführen, er nimmt sie auf seinen Rücken um mit ihnen
ein Heim oder Neuland zu suchen. Seine Theologie ist auch ein Versuch, die Väter
der Theologie (Luther, Barth etc.) letztendlich bejahen zu können.
Lukas12 erzählt in der
Apostelgeschichte über einen Äneas, der selber gelähmt ist. Es ist nicht mehr
die vorige Generation, die gelähmt ist, die Lähmung hat sich durchgesetzt.
Nicht die Väter der Goyim sind gelähmt, sondern Äneas selber, die
Personifikation des Römischen Reiches, ist gelähmt. Nicht die Theologie der Väter
ist also gelähmt, sondern die Theologie unserer Generation. Doch wird Äneas von
Israel her geheilt. Petrus verbindet den Namen Äneas mit dem Namen, den
Heilungstaten, der Auferweckung und der Gegenwart Jesu Christi. Äneas wird in
die Geschichte Jesu und damit in die Geschichte Israels hineingeführt. Das
hat eine heilende Wirkung. So wird auch er auf den Weg der Hoffnung geführt. So wird auch unsere
Generation dort seine Heilung und Hoffnung finden.
Auch hier gibt es eine
Wiederholung. Die Geschichte des Äneas von Vergil und die Geschichte der
Heilung durch Jesus werden beide wiederholt, aber auf solch eine Weise, dasz
die Geschichte des Äneas in der Geschichte der Auferweckung des Ge-lähmtes
hineingeführt wird. Die heidnische Geschichte des Äneas wird in der Geschichte
Israels hineingepflanzt. Es gibt auch einen Unterschied und damit eine
Verschiebung. Am Äneas der Apostelgeschichte wird kein geheilter Vater gegeben,
Äneas wird selber geheilt. Wer zutritt zu der Gemeinde Jesu Christi findet
dort seinen Vater und seine Väter.
Auch hier symbolisiert der Name Übereinkunft
und Unterschied. Der Name des Äneas wird bei Vergil und in der Vulgata,
und daran anschlieszend auch in viele Übersetzungen, auf dieselbe Weise buchstabiert.
Im Griechischen gibt es jedoch einen Unterschied. Homer schreibt Aineias,
während Lukas den Namen als Aineas buchstabiert. Der Unterschied ist nur
ein Iota, der kleinste Buchstabe des Alphabeths (Mattheus 5,18). Am
wichtig-sten ist die Feststellung dieses Unterschieds: wer zur
Hoffnungsgeschichte Israels hinzukommt, bleibt der Mensch der er war und bleibt
es zugleich auch nicht: es gibt Übereinkunft und Unterschied. Liesze sich
dieser Unterschied auch interpretieren? Vielleicht so: in der Namen Talitha kam
es nur zu einem Wechsel, beim Namen des Aineias kommt es hingegen zu
einem Verlust des Buchstabens. Wer zur Hoffnungsgeschichte Israels
hinzutritt, wird im Herzen seines Seins, in seinem Namen, beschnitten.
Leib
und Glaube
Hoffen
soll auch institutionalisiert werden. Seinen Anarchismus zum Trotz weisz
Marquardt, dasz wir ohne Institutionalisierung nicht auskommen: "die
Christen (müssen) ihrer Logik, der ihres Hoffenkönnens, eine gesellschafliche
Form zu geben versuchen13"
denn "nicht guter Wille einzelner Umkehrender, sondern nur breite
Bewegungen mit historischer Wirkung zählen14".
Ein
historische Bewegung im Zeichen der Hoffnung braucht Breite und Dauer und
das geht nicht ohne Institutionalisierung. Blicken wir darum noch einmal zum
Witwenamt der Hoffnung, um besser zu sehen, was Institutionalisierung der
Hoffnung bedeutet.
Das
Witwenamt ist an Witwen, die älter als sechzig Jahre sind (I Tim. 5,9)
vorbehalten. Nicht jede Witwe ist geeignet, um in dieses Amt versetzt zu
werden, sondern nur diejenigen, die "ein Zeugnis guter Werke" (I
Tim. 5,10) haben. Das Witwenamt ist also ein Sozialkonstrukt, in dem Glaube,
gesellschaftliche Daten (Witwe, Alter, Frau-sein, nicht mehr gebären (gender))
und leiblichen Daten (weibliches Geschlecht, Alter, nicht mehr gebären können)
miteinander verbunden werden. Es ist der Glaube, der diesen leiblichen und gesellschaftlichen
Daten ihre spezifische Bedeutung hinsichtlich des Amtes verleiht.
Marquardt
spricht sich nicht darüber aus, ob er das Witwenamt auch als eine Möglichkeit für
unsere Zeit betrachtet. Er spricht aber über eine Möglichkeit, der Hoffnung
auch in unserer Zeit eine gesellschaftliche Form zu geben. Sprechend über die Hoffnung
sieht Marquardt als gesellschaftliche Form "das Heilighalten des Herrn
Christus in unseren Herzen" (1 Petr. 3,15), das er auslegt als "das
Behaupten seiner besonderen Qualität gegenüber der nivellierenden und
assimilierenden Quantität des Allgemein-Menschlichen15".
Es
fällt auf, dasz Marquardt auch hier mit einer leiblichen Kategorie arbeitet:
dem Herzen. Dort musz etwas heilig gehalten werden. Nicht im Gedanken, nicht in
der Lehre der Kirche, sondern im Herzen.
Das
Herz ist ein gesellschaflich-leibliches Konstrukt, welches in der Bibel mit
einer spezifischen (Glaubens)Bedeutung versehen ist. Das Herz ist - biblisch
gesprochen - das Zentrum eines Menschen, der Quellort der Gedanken16,
es ist die Stelle, wo seine Tat anfängt. Nicht im Gehirn befindet sich das
Zentrum eines Menschen, wie Menschen der Aufklärung es denken (Gehirntot ist
darum für sie auch Zeichen des Todes des ganzen Menschen) - auch nicht im
Herzen als Zentrum der Gefühle, wie Romantiker meinen, sondern im Herzen als
Planungszentrum der Tat. Und Petrus gibt in seinen Brief den Auftrag, Jesus
Christus dort heilig zu halten, dort die Hoffnung zu bewahren, um von dort her
Taten der Hoffnung zu planen und zu verwirklichen.
Wir
sehen, dasz hier ein Teil des Leibes mit Glaubensbedeutungen verbunden wird.
Diese Verbindung von Leib und Glaube ist kennzeichnend für die Dogmatik
Marquardts. Marquardt läszt allen Glauben und alles Theologie-Treiben mit dem
Leibe anfangen, in einer Vorordnung des Leibes vor dem Denken17.
Die Leiber der Glaubenden werden berufen, sich auf den Weg zu neuen Orten zu
machen, an denen Gott sich sehen läszt18 und an denen neue
Gotteserkenntnis gelernt werden kann. Das Gehen der Leiber geht den Gedanken
voran. Die Leiber werden durch Gott in Dienst genommen und mit Glaube
verbunden. "Soma ist der Ort, an dem der Glaube lebt19"
Die Leiber werden aus ihren alten sozialen Beziehungen weggerufen und werden
jetzt zu neuen Leibern sozialisiert20. Aber wie werden die
Leiber sozialisiert?
Evangelische
Halacha
Um
den Vorrang der Tat und des Weges - und damit auch des Leibes - in der
Theologie zum Ausdruck zu bringen, hat Marquardt den Term Evangelische Halacha
geschmiedet. Mit diesem Term verhält es sich aber eigenartig21.
Auch Peter Tomson hat darauf gewiesen22, dasz Marquardt den jüdischen
terminus technicus Halacha auf verschiedene Weisen in seiner Dogmatik
verwendet.
a.
in den Prolegomena
In
den Prolegomena schliesst Marquardt sich an bei der populären, aber falschen,
jüdisch-Mittelalterlichen Ethymologie, die Halacha mit dem Verb halach, gehen
verbindet. Es bedeutet dann: der Weg. Das Bild des Weges, das so oft in christlichen
Texten und Texten aus anderen Religionen erscheint, wird hier zum Leitfaden
seiner Dogmatik. Evangelische Halacha steht hier für den Vorrang der Praxis,
der Tat und des Lebens in der Theologie vor dem Denken und Wissen einerseits
und einer offenen, unabgeschlossenen Diskussionsweise andererseits. Die Christen
werden in der Geschichte des Weges Abrahams gerufen und werden erst dort in
ein neues offenes und beziehungsreiches Leben auf neue Gedanken kommen.
Das
Leib ist in dieser Auslegung von Evangelischer Halacha eine "Möglichkeit
der Kommunikation"23.
Die Leiber stehen im Dienst der Begegnung. Sie werden in Beziehungen innerhalb
der Abrahamitische Geschichte gebracht, wo die Kirchen bisher versagt haben
und werden dort neue Kenntnis auftun. Durch diese neue Begegnungen und
Beziehungen (mit Israel und den Armen, und durch eine Vorordnung unserer
Beziehungen mit der ganzen Menschheit vor die Beziehungen mit unserem eigenen
Volk) werden wir aus unserer alten Identität gefügt24.
Diese Form der Evangelische Halacha nenne ich: die Evangelische Halacha der
Prolegomena.
Es
kommt bei diesen Begegnungen in der Evangelische Halacha der Prolegomena zu
einer neuen Sozialisierung der Leibern, aber es ist eine Sozialisierung die
nicht zu einer neuen Identität führt25. Alles steht hier im Zeichen
des Abschieds und der Umkehr. Diese Sozialisierung ist das Ablernen der eigene
Sünden, und das Lernen, bei Israel zu lernen. So werden wir zu erev rav
(Exodus 12,38)26,
Volk das sich in der Nähe Israels aufhält, auf Israel gericht mit Israel auszieht.
Unsere Identität gerät in Abhängigkeit von Israels Identität. "Wir sind
Bettler, das ist wahr".
b.
In der Eschatologie
Im
ersten Band der Eschatologie kommt Evangelische Halacha auf eine andere Weise
zur Sprache, eher als Gebot und Regel. Marquardt bringt dort die Noachidische
Gebote im Rahmen des Verhältnisses zwischen Israel und den Völkern zur Sprache.
Die Noachidischen Gebote sind eine Reihe Gebote, die durch das rabbinisches
Judentum formuliert worden sind, als Angebot an und Möglichkeit für die Völker,
um mit dem Gott Israels und so auch mit Israel in Beziehung zu treten.
Marquardt verbindet das Halten der Noachidischen Gebote mit dem Einüben und
Festhalten an der Hoffnung. Marquardt sieht die Noachidischen Gebote als
"ein Beitrag zur Konstituierung von Zukunft" und als eine "Ermöglichung
und Aufforderung zu einer Grenzüberschreitung... in einen Zustand, der Hoffen
lehrt27".
Durch das Halten der Noachidischen Gebote wird in der Praxis des Alltages28
das Hoffen gelernt. Das Halten der Gebote rückt die Christen näher zur
Hoffnung Israels. Es bedeutet eine alltägliche Praxis, in der Christen mit
dem Hoffen vertraut werden und es in ihren Fleisch einschreiben.
Der
Leib ist hier die Instanz, die die Geboten tut und an dem sie volzogen werden.
Er wird sozialisiert durch die Einübung der gebotenen Taten, genau wie in der
jüdischen Halacha. Durch die Bindung der Gebote an die Taten und Funktionen des
Leibes wird der Leib mit Glaube verbunden und werden die Teile des Leibes mit
Glaubensbedeutungen verbunden. Das Halten der Gebote bringt die Leiber in eine
Haltung der Hoffnung.
So
kommt es zu einer Sozialisierung der Leiber und zu einer neuen Identität, eine
Identität des Hoffenkönnens. In dieser Identität stehen wir in Beziehung zu
Israel, denn die Noachidischen Geboten sind von Israel gegeben29
und beteiligen uns am selben Gott30. Aber wir stehen nicht nur
in Abhängigkeit von Israel, denn wir begegnen Israel nicht nur, sondern
stehen mit Israel auf demselben Grund des Hoffens. Ich denke, dasz dies ein
Moment eigener Identitätsfindung ist. Es kann uns dazu bringen, auf einer
eigene kreative Weise mit diesem Grund des Hoffens umzugehen und zu einer
eigenen31
Partikularität zu kommen.
Meiner
Meinung nach nähernen wir uns hier so etwas wie einer Halacha für Christen. Das
öffnet vielerlei Perspektiven auf den Gebiet des Lebensstils, der Liturgik und
der Ästhetik. Ich möchte nur Eines nennen. Es kann dazu leiten, dasz das viel
geschmähte und miszbrauchte Bild, das Paulus braucht, wenn er über den
einzelnen Leib der Gläubigen spricht, aufs neuen Andacht zieht. Paulus spricht
in seinem ersten Brief an die Korinther über die Tempel unseres Leibes (6,19).
Auf und in unserem Leib findet ein Dienst zur Ehre Gottes statt. Unsere Leiber
- in all ihren Funktionen - werden in Dienst genommen zur Verherrlichung
Gottes. Sie sind alltägliche liturgische Orte. Und in seinem zweiten Brief an
die Korinthern korrigiert der Zeltmacher sichselbst - und wird dieses Bild
weniger anti-jüdisch und bescheidener: wir sind keine feste Tempel, sondern
die bewegliche Tabernakel eines "wandernden Gottesvolks32"
(II Kor. 5,1-10). Der Leib als ein Tabernakel Gottes, in denen Gott durch das Halten der Geboten
verherrlicht wird: eine schöne Perspektive.
Es
scheint so, alsob Marquardt hier kommt an so etwas wie eine Halacha für
Christen. Aber an diesen Punkt angekommen, nimmt Marquardt zurück, was er zu
versprechen scheint. Es ist, als ob er einen Schrecken bekommen hat wegen der
Konsequenzen seines eigenen Denkens. Er befürchtet dasz das Tun der Gebote
anstelle des Glaubens tritt33. Oder er sagt, dasz er
sich gerne mit den Geboten der Mischna befassen möchte. Und überhaupt wäre
"ein neues Verhältnis zu Gesetz und Lebensregel, zu Sitte und Lebensstil
wünschenswert, ja lebensnotwendig"34. Aber er betrachtet die
Zeit dafür als noch nicht reif35, jetzt käme es erst darauf
an, um Raum zu schaffen in der Theologie für das Tun als solches, womit er sich
in den Prolegomena beschäftigt hat. Wenn es darauf ankommt, entscheidet
Marquardt sich für die Evangelische Halacha der Prolegomena und nicht für die
auf die Gebote gerichte Evangelische Halacha der Eschatologie.
Vielleicht
hat Marquardt recht mit seiner Bemerkung, dasz die Kirchen erstmal den Sinn der
Praxis und des Tuns fassen sollen, bevor wir uns an die (jüdische) Halacha oder
an eine Art christliche Halacha wagen können. Das mag sein. Aber ich höre in
seinem Vorbehalt auch noch etwas anderes mitschwingen. Ich höre in seiner
Entscheidung für die Evangelische Halacha der Prolegomena auch mit: es ist
noch nicht die Zeit für etwas Neues. Unsere Zeit ist eine Zeit des Lernens beim
Judentum. Wir sollen erst die Bedeutung des unspezifischen Tun beim Judentum
lernen bevor wir uns auf das spezifischen Tun der Geboten gründen. Unsere Zeit
ist eine Zeit der Busze.
Ich
verstehe Marquardts Verweigerung, die Evangelische Halacha der Eschatologie
praktizistisch zu erörtern36, als einen Versuch den
Vorrang der Deutung der Zeichen unserer Zeit37 zu
geben: jetzt ist es noch eine Zeit abzureiszen (Kohelet 3,3) und Busze zu tun:
"wer weiss, umkehren möchte der Gott...und wir schwinden nicht!"
(Jona 3,9).
Nebeneinander
Anders
als Marquardt möchte ich beide Bedeutungen von Evangelischer Halacha
nebeneinander stehen lassen. Beide haben ihr Recht. Ohne Umkehr und Busze ist
der Aufbau einer neuen christlichen Identität sinnlos. Denn es geht Marquardt
nicht um "erneuerte Religion". Das ist das recht der Evangelischen
Halacha der Prolegomena.
Aber
es kann nicht bei nur dieser Form Evangelischer Halacha bleiben, weil wir m.E.
niemals mit dieser Form anfangen können. Ich werde das auslegen.
Marquardt
nennt das gemeinsame christliche Leben das "wesentlich Christliche",
das "spezifische, d.h.: das unterscheidend Biblische38" und darin hat er recht. Diese Nachdruck auf
und Einsatz beim Leben (und beim Leibe) ist typisch christlich. Ins Christentum
geht es um das Leben, denn nach wie vor geht es um das (auferstandene) Leben
Christi und um die Nachfolge ins eigene (auferstandene) Leben der Gläubigen39.
Die Auferstehung der Tabitha ist letztendlich nicht nur eine Wiederholung der
Auferstehung des Töchterleins des Jairus, sondern eine Wiederholung der
Auferstehung Christi. Marquardt nennt das christliche Leben auch das
"wirklich Christliche40". Auch darin hat er
recht, denn ein Leben das nicht wirklich ist, kann auch nicht unterschiedlich
sein. Aber wie realistisch, wie wirklich ist es, um beim christlichen Leben
anzufangen, um das christliche Leben als Anfang der Theologie zu nehmen? Ist
das christliche Leben, das "von Christus in der Mitte des Volkes Gottes
gelebt...worden ist41"
nicht vielmehr eine eschatologische Kategorie? Eine Sache der Zukunft, genau
wie Christus ein Mensch der Zukunft ist42. Marquardt sagt dasz er
nur im Rahmen der Eschatologie über die Noachidischen Geboten sprechen möchte43.
Ist es nicht umgekehrt? Ist das christliche Leben nicht viel eschatologischer
als die Noachidischen Gebote, in denen noch ein Brücke zwischen dem Heute und
der Zukunft sichtbar ist? Auch darum brauchen wir die Evangelische Halacha der
Eschatologie.
In
den Evangelischen Halacha der Eschatologie können wir auch zu einer neuen
christlichen Identität kommen. So etwas brauchen wir. Eine längere Periode
der Identitätslosigkeit führt zu Ressentimenten. Darum ist es unerläszlich.
Darum halte ich auch die Evangelische Halacha der Eschatologie für wichtig.
Ein
doppeltes Anliegen
Ich
sehe in dem unterschiedlichem Gebrauch des Terms Evangelische Halacha das
doppelte Anliegen der Dogmatik Marquardts wiederspiegelt. Das Anliegen:
"Nie Wieder Auschwitz und darum sollen wir Israel begegnen und bei ihnen lernen",
und das Anliegen: "von Anfang her hat sich der christliche Glaube (zu
seinem Elend und zu Elend der Juden und Heiden) zu sehr vom dem Glaube
Abrahams und Jesu Christi gelöst, vor allem von dem Gesetz und den Geboten,
und darum sollen wir das Christentum vom Judentum her korrigieren". Ich
sehe beide Tendenzen und möchte beide auch in ihren Konsequenzen würdigen44.
Coen
Wessel
Verschenen in: Hanna Lehming e.a. (red.), Wendung nach Jerusalem, Gütersloh 1999 p. 118-132
1. F.-W. Marquardt, Was dürfen wir
hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie. Band 1. Gütersloh 1993
S.87-89.
2. Eschatologie, Band 1, S. 89.
Ein weiterer Grund für diese Verschiebung wäre, dass man kein Christ
wird durch Geburt, sondern durch die Taufe. Und weiter: die Perspektive des
christlichen Lebens ist nicht die Erweckung mehrerer goyim (Heiden), sondern
das Gottesreich.
3. Vgl.: F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu
Jesus, dem Juden, Band 1, München 1990 S.168. Vgl.: auch: Eschatologie, Bd. 1
S.85.
4. Vgl.: F.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der
Theologie, Prolegomena, München 1988 S.290-293 und Eschatologie Bd. 1 S.86
5. F.-W. Marquardt, Was dürfen wir
hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie, Band 2 Gütersloh 1994
S.37
6. Eschatologie Bd. 2 S.286ff.
7. Eschatologie, Bd. 2 S.332
9. Eschatologie Bd.1 S.183
10. Vgl.: Prolegomena S.153-154
11. Prolegomena, S.72ff. und
S.147.
12. Ob Lukas bekannt war mit dem Aeneis des Vergil weiss ich
nicht. Aber die Sagen, worauf Vergil seine Arbeit gegrund hat wird er
sicherlich gekannt haben.
13. Eschatologie Bd. 1 S.55
15. Eschatologie, Bd. 1 S.55-56. Sehe auch S.47ff.
17. "Bei Paulus drükt der Leibgedanke 1.) aus, dass
sich chrislicher Glaube "nicht in einer rein intellektuellen oder
emotionellen Sphäre vollzieht", sondern im "gesamten leiblichen
Leben, zu dem Denken und Gefühl natürlich auch gehören...(ThWNT VII
S.1061)" : in dieser Zugehörigkeitsordnung!" Prolegomena S.155.
20. Eschatologie, Bd. 2, S.356
21. Ich fasse mich hier kurz. In meiner Doktorarbeit werde
ich ausführlicher auf diese Sache eingehen.
22. Peter Tomson, Die historsche Kritik, die Dogmatik und
die rabbinische Literatur, Responsorien an Friedrich-Wilhelm Marquardt in:
Susanne Hennecke u.a. (red.) "Abirren", Niederländische und deutsche
Beiträge von und für Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wittingen 1998 S.68.
25. Vgl.: Viktor Kal, Eine universale Halacha? Marquardt,
Lévinas und der jüdische Partikularismus in: "Abirren" S.36-38.
26. Vgl.: Eschatologie Bd.2, S.160-164.
27. Eschatologie Bd.1 S.329-330.
28. Eschatologie Bd.1 S.334.
29. Vgl. u.a.: Eschatologie Bd. 1 S.210 und 326.
30. Eschatologie, Bd. 1, S.181
31. Eine Identität, die in seiner Partikularität auch
verwundbar ist. Vgl.: Viktor Kal, Eine universale Halacha? Marquardt, Lévinas
und der jüdische Partikularismus in: "Abirren" Wittingen 1998
S.30-31.
32. F.-W. Marquardt, Das christliche
Bekenntnis zu Jesus, dem Juden, Eine Christologie, Band 2, München 1991 S.213.
33. Eschatologie Bd.1 S.333-334
34. F.-W. Marquardt, Zwischen
Amsterdam und Berlin in: "Abirren" S.131
36. Eschatologie Bd.1 S.334
39. Auch im Unterschied zum Judentum. Das Judentum fängt nicht
beim Leben an, oder bei der Praxis oder beim Tun-im-allgemeinen, sondern beim
Tun der spezifischen Geboten. Ich denke, dasz Marquardt mit seinem Anfang beim
Leben, christozentrischer ist als er sich selber bewuszt ist! Das er auslegt,
was Leben heisst an den Hand des Leben Abrahams (und nicht des Lebens Christi)
macht hier keinen Unterschied, denn nicht die Person macht es christozentrisch,
sondern der Einsatz beim Kategorie "Leben". Vgl.: J.F. Lyotard, Vor
dem Gesetz, nach dem Gesetz in: Elisabeth Weber (Hrs.), Jüdisches Denken in
Frankreich, Frankfurt 1994, S.163.
Vgl. auch: C. Doude van
Troostwijk, Stem in steen, Lyotard op theologenpad in Om het levende
Woord 1997, nr.7 Kampen 1997 S.67-90
42. Vgl. Eschatologie Bd.2 S.395ff. aber auch S.346ff.!
43. F.-W. Marquardt, Zwischen
Amsterdam und Berlin in: "Abirren" S.126
44. Ich möchte Frau S. Hennecke herzlich dafür danken, dasz
sie mein Deutsch verbessert hat, ohne es seiner Eigenarten zu berauben.
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